Grundprinzipien für die Diagnose und Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms / Hyperaktivität

 

 

Vorbemerkung

Der folgende Text ist eine freie Übersetzung des Grundsatzdokumentes: "Guiding Principles for the Diagnosis and Treatment of Attention Deficit Hyperactivity Disorder", verfasst von The National Attention Deficit Disorder Association.
Übersetzung: Martin Winkler. Orginalveröffentlichung unter http://www.psychologie-online.ch/add/

 

Einleitung

In den vergangenen zwei Jahrzehnten erfolgte in den USA eine fast explosionsartige Zunahme von Diagnosenstellungen, Behandlungen und Forschungen zum Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit und ohne Hyperaktivität (ADD) auf.

Mit zunehmender Beschäftigung von Klinikern und Forschern mit ADD/ADHD wurde deutlich, dass die praktischen Auswirkungen für Betroffene weit stärker sind als jemals angenommen. ADD/ADHD kann nicht nur Lernen und Verhalten in der Kindheit behindern, sondern als neurobiologische Störung in erheblichem Ausmaß die Funktionsfähigkeit in wesentlichen Bereichen des gesamten späteren Lebens beeinflussen bzw. behindern. Forschung und klinische Erfahrung lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass ADD/ADHD-Probleme zu erheblichen Schwierigkeiten der Ausbildung, Beruf und Familie führen und damit eine wesentliche Rolle bei einer Vielzahl gesundheitlicher, sozialer und ökonomischer Probleme darstellen können.

ADD/ADHD ist eine häufige Störung. Die vierte Auflage des sog. DSM (Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association) schätzt, dass ADD/ADHD bei ca. 3-5 % aller Schulkindern nachweisbar ist. Eine aktuelle Zusammenstellung von 13 Prävalenzstudien gehen je nach verwendeter Methodik und untersuchten Population von einer Häufigkeit von 1,7 bis 16 % aus (1). Weil mehr über ADD/ADHD in den Medien bekannt wird, beschäftigen sich auch immer mehr Erwachsene mit der Frage, ob ADD/ADHD als wesentlicher Faktor für die Schwierigkeiten ihrer Kinder - oder eigenen Problemen - eine Rolle spielt.

Patienten, die bei sich oder ihren Angehörigen ADD/ADHD vermuten, wenden sich zunächst an ihren Hausarzt, Nervenarzt oder Psychiater oder ggf. den Kinderarzt. Die Hilfestellung, die sie dort erhalten, variiert stark von einem kurzen Praxisbesuch mit einer Rezeptverschreibung bis hin zu umfangreichen Diagnostik von mehreren unterschiedlichen Fachgebieten. Wir sind besorgt, dass paradoxerweise ADD/ADHD dabei derzeit sowohl zu häufig wie auch zu selten diagnostiziert wird. ADD/ADHD wird heute noch häufig nicht ausreichend bzw. fachgerecht behandelt, andererseits z.T. aber auch unsachgemäß übertherapiert.

Zielsetzung der folgenden Zusammenstellung ist es daher, einen Standard für die Diagnostik und Therapie von ADD/ADHD zu beschreiben:
Untersuche und behandele einen Menschen, nicht Symptome!

Ein umfassendes Diagnostikverfahren für ADD/ADHD umfasst jeweils eine Beschreibung der gesamten Person. D.h. man muss ermitteln, wo die ADD/ADHD-Symptome die physische und psychische Funktionsfähigkeit einer Person bzw. deren Persönlichkeit beeinflussen. Jeder Mensch ist ein Individuum, mit eigenen Stärken und Schwächen. Eine Diagnose, die allein nur einzelne Aufmerksamkeitssymptome checklistenartig in Schubladen presst, ist ungeeignet. Wenn man die Persönlichkeit des Hilfesuchenden erkannt hat, kann man die Bedeutung der ADD/ADHD-Symptomatik in dem gesamten Lebenskontext verstehen. Der Erfolg einer Behandlung hängt davon ab, ADD/ADHD innerhalb der Lebensumstände zu verstehen und zu integrieren.

Denke an ADD/ADHD, aber berücksichtige auch Differentialdiagnosen!

ADD/ADHD ist eine häufige Störung und sollte als beteiligter Faktor bedacht werden, wenn ein Kind oder ein Erwachsener über Schwierigkeiten in folgenden Bereichen klagt: Lernstörungen, Selbstkontrolle, Abhängigkeiten, Kontakte mit anderen Menschen oder andere gesundheitliche Probleme.
Dabei kann sich ADD/ADHD in einem sehr unterschiedlichem Ausmaß darstellen. Die richtige Diagnosenstellung des ADD/ADHD kann helfen, die Existenz anderer Störungen der Gesundheit, Lernstörungen oder emotionalen Störungen zu verstehen, bzw. kann als begleitende Störung auftreten. Hierzu sollten die professionellen Diagnostikern u.a. an folgende häufig begleitende Zustände denken:
Depressive und bipolare Störungen
Angststörungen
Suchterkrankungen wie Alkoholabhängigkeit, Spielsucht, Essstörungen etc.
Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten / Verhaltensstörungen bei Kindern
Lernstörungen insbesondere Schreib- und Leseschwäche
Psychotische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen
Zwangsstörungen
Persönlichkeitsstörungen
Tic-Störungen
Hypo- und Hyperthyreoidismus
Schlafstörungen
Erberkrankungen (Chromosomale Störungen wie z.B. Klinefelter-Syndrom)
Hirnverletzungen / Traumata

ADD/ADHD-Symptome können in allen Lebensabschnitten auftreten

ADD/ADHD ist das Resultat von biologischen Unterschieden in Hirnabschnitten, die für die Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Wachheitsgrad zuständig ist. Während ADD/ADHD also biologisch begründet ist und in der Regel seit der Geburt vorhanden ist, können Symptome auch erst dann auftreten, wenn der/die Betroffene aus irgendwelchen Gründen den Alltagsanforderungen nicht mehr gewachsen ist. Dabei kann ADD/ADHD zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Leben symptomatisch werden. Obwohl also die Symptome des ADD/ADHD den Patienten nicht unbedingt zuvor im Leben beeinträchtigt haben müssen, müssen sich doch für die Diagnosenstellung typische Zeichen in der Kindheit nachweisen lassen. Hierzu sollte der Untersucher nach Hinweisen für Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsstörungen in der Kindheit suchen und hierzu u.a. Berichte der Eltern, Zeugnisse oder Lehrerkommentare, Vorbehandlungen bei Psychologen oder Ärzte verwenden.
ADD/ADHD beeinträchtigt häufig die Ausbildung. Ein fehlender Schulerfolg beeinflusst die spätere wirtschaftliche und soziale Lebensführung erheblich. Daher sollten Lernbeeinträchtigungen und Schulprobleme sorgfältig erfragt werden. Andererseits schliessen schulischer oder beruflicher Erfolg keineswegs die Diagnose eines ADD/ADHD aus.

ADD/ADHD beeinflusst verschiedene Bereiche des Lebens.

Es kann eine Vielzahl von gesundheitlichen Problemen, Konzentrationsprobleme, Lernstörungen, Ausbildungsprobleme, oder Sprachstörungen beeinflussen oder imitieren. Daher erfordert eine angemessene, umfassende Diagnostik für ADD/ADHD eine medizinische Anamnese sowie Informationen zur Schulausbildung und Verhalten. Zusätzlich sollte ein normales Gehör und Sehvermögen durch einen Arzt festgestellt werden und eine systemische Erkrankung oder Entwicklungsstörung ausgeschlossen sein. Die Diagnostik von ADD/ADHD sollte nie alleine auf der Basis von Selbstbeurteilungsbögen, Fragebögen oder Tests beruhen. Vielmehr muss die Abklärung von ADD/ADHD drei grundlegende Fragen beantworten:

1. Liegen eine ausreichende Anzahl von ADD/ADHD-Symptomen gegenwärtig vor, die fortlaufend eine wesentliche Beeinträchtigung für die betroffene Person darstellen?

2. Lassen sich diese Symptome bis in die Kindheit zurückverfolgen?

3. Gibt es irgendeine alternative Erklärung für das Vorhandensein dieser ADD/ADHD-Symptome?

Die Diagnostik und Behandlung von ADD/ADHD sollte durch einen qualifizierten Fachmann erfolgen.

Ein (für ADD/ADHD) qualifizierter Fachmann kann aus einer der folgenden Fachgruppen stammen : Psychiater / Neurologe, Kinderarzt /-psychiater , Internist, Hausarzt oder andere qualifizierte Ärzte; Psychologen bzw. Psychotherapeuten. Ein entsprechender Fachmann / bzw. eine Fachfrau sollte nicht nur die Erlaubnis zu Praktizieren haben, sondern Ausbildung und Erfahrung in der Differentialdiagnose und Behandlung von ADD/ADHD und dem gesamten Spektrum psychiatrischer Erkrankungen.

Die Wirkung einer Medikation sollte nicht Grundlage der Diagnosenstellung von ADD/ADHD sein.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum man aus der individuellen Reaktion auf eine Stimulantien-Therapie oder eine andere Medikation keine richtigen Rückschlüsse auf das Vorhandensein von ADD/ADHD schließen kann. Erstens muss man wissen, dass Stimulantien keineswegs nur bei Patienten mit ADD/ADHD eine Wirkung haben; auch andere Patientengruppen bzw. Gesunde können positiv auf sie reagieren. Zweitens kann eine fehlende Wirkung der Medikation an einer falschen Dosis oder aber ein fehlendes Ansprechen des Organismus auf dieses Medikament liegen und nicht unbedingt dadurch begründet sein, dass bei der Person nicht die Diagnose ADD/ADHD zutrifft. Drittens könnte ein positives Ansprechen auf das Medikament eher auf einen Placeboeffekt als auf eine wirkliche Indikation bzw. Beweis für ein ADD/ADHD zurück zuführen sein. Viertens könnte die Verwendung eines Medikamentes zur Diagnostik den Arzt verleiten, vorschnell den diagnostischen Prozess zu beenden ohne andere Erkrankungen zu berücksichtigen, die gleichzeitig mit ADD/ADHD auftreten können und gemeinsam die individuelle Leistungsfähigkeit beschränken.

Die Diagnose sollte sich primär an die diagnostischen Kriterien des DSM-IV. halten.

Um eine Standardisierung zu erreichen, sollte die Diagnose von ADD/ADHD sich an den gegenwärtigen internationalen Kriterien für psychische Erkrankungen halten. Dies sind derzeit auch international die Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 4. Auflage, bekannt als DSM-IV. Einige Experten haben zurecht die DSM-IV-Kriterien von ADD/ADHD kritisiert und zahlreiche Probleme benannt. Insbesondere sind die Kriterien nicht auf unterschiedliche Altersgruppen angepasst, so dass sie in der publizierten Form zu inflexibel für die Diagnose von Erwachsenen seien, d.h. Erwachsene werden derzeit noch zu selten erfasst. Hierzu wurden bereits geringe Anpassungen in der Fachliteratur empfohlen, dennoch ist es dringend angeraten sich primär an diesen Diagnosekritieren zu halten.

Die Diagnose und Behandlung sollte andere Personen einschliessen, die auch Fremdbeurteilungen geben können.

Eine geeignete Diagnose und Behandlung von ADD/ADHD sollte andere Personen wie Eltern, Partner, Lehrer und - wenn dies sinnvoll und möglich ist - Arbeitgeber. Diese Menschen können für die Zusammenarbeit sehr nützlich sein und wertvolle Informationen für den diagnostischen Prozess und die Behandlung liefern. Wenn sie Informationen über ADD/ADHD erhalten und ADD/ADHD dadurch besser akzeptieren können, können sie so auch eine wertvolle Unterstützung für den ADDler werden.

Die Behandlung sollte in Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen erfolgen.

Da es gegenwärtig keinen Weg gibt, ADD/ADHD zu „heilen", besteht das wesentliche Ziel der Behandlung darin, die individuellen Fähigkeiten damit umzugehen zu verbessern (sog. Coping). Zu lernen, ADD/ADHD zu „bewältigen", erfordert häufig eine Kombination von Behandlungen durch Experten unterschiedlicher Fachrichtungen. Ein Arzt der Stimulantien bzw. andere geeignete Medikamente verschreibt. Ein Psychotherapeut (bzw. Nervenarzt, Psychiater, Neurologe oder andere Experte), der eine unterstützende Informationsvermittlung für ihn und seine Familie anbietet, Kompensationsstrategien zu Haus und in der Schule oder Arbeit vermittelt und ein Training zum Erlernen von Verhaltenstechniken anbietet. Ein Pädagoge / Lehrer kann schulische Probleme neu bewerten und Hilfestellungen anbieten und dann Eltern oder Therapeuten eine Rückmeldung über die Effektivität der Behandlung geben. Somit sollten Angehörige verschiedener Berufsgruppen sich miteinander austauschen und ihre Bemühungen koordinieren.

Prinzipiell sollte man nicht mit einer medikamentösen Behandlung beginnen, bevor eine umfassende Informationsvermittlung abgeschlossen wurde und eine Indikation für etwaige andere Behandlungsformen ausgeschlossen wurde.

Ärzte bzw. andere Therapeuten sollten sich mit den aktuellen Forschungsergebnissen und Diagnostikverfahren vertraut machen.

Es ist die Verantwortung von jedem Arzt oder Psychotherapeuten, der mit der Erhebung und dem Umgang mit ADD/ADHD beschäftigt ist, das jeweils aktuellste Wissen über ADD/ADHD in sein / ihr klinisches Repertoire zu integrieren. Das verbesserte Wissen um Ursachen, Diagnose und Behandlung von ADD/ADHD, das aus der Zusammenstellung der aktuellen Veröffentlichungen stammt, wird wesentlich zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen. Wir appellieren an alle Experten sich mit dem aktualisierten Stand von Diagnostikmethoden sowie den Voraussetzungen einer umfassenden Berücksichtigung aller Aspekte von ADD/ADHD und neuesten Behandlungsmethoden vertraut zu machen.


(1) Goldman, L.S., Genel, M., Bezman, R.J., and Slanetz, P.J. (1998). Council report of diagnosis and treatment of Attention -Deficit Hyperactivity Disorder in children and adolescents. Journal of the American Medical Association, 279, 1100-1107.

(c) 1998 National Attention Deficit Disorder Association. This document may be reproduced for personal nonprofit use, otherwise expressed permission from National ADDA is required. 

Questions and inquiries should be directed to:
National Attention Deficit Disorder Association
9930 Johnnycake Ridge Road, Suite 3E
Mentor, OH 44060